Nick, 38 Jahre, Hannover (Deutschland)
Bitte beachtet, dass die Beiträge ausschließlich persönliche Kommentare sind und weder dazu gedacht sind, Informationen zu verbreiten noch bestimmte Aufrufe zu unterstützen. Wir öffnen hier ein Fenster auf die Sicht der Jugendlichen in der Ukraine, die sich über Nacht in einem Krieg wieder gefunden haben, über das wir uns in dieser schwierigen Situation miteinander verbinden können.
Krieg – Solidarität – Hoffnung
Donnerstag, 17:25. Als die Information kam, dass meine Stief-Großeltern aus der Ukraine fliehen müssen, ist gerade eine Tagung mit den UNESCO-Schulen in Niedersachsen abgeschlossen worden. Wir hatten uns dafür entschieden, einen Film zusammenzustellen – als klares Zeichen für Frieden. Ich habe deutlich gespürt, dass viele Lehrkräfte und SchülerInnen gerne noch mehr machen wollten, aber es fehlten uns Handlungsoptionen. So viele von uns wissen, dass etwas getan werden muss und wir fühlen es tief in uns, aber die Frage bleibt so oft ohne Antwort: Was kann ich jetzt gerade tun, das wirklich sinnstiftend in der aktuellen Situation ist? Wie kann ich wirklich helfen?
Meine Stiefmutter Tanya erklärte mir am Telefon, dass ihre Eltern die Möglichkeit haben, mit einem Kleinbus nach Lviv zu fahren. Danach wollen sie zur Grenze. Tanya und meine restliche Familie wohnen in den Vereinigten Staaten und fühlen sich gerade genauso wie viele bei der Tagung auch: machtlos. Für mich war das plötzlich ganz anders. ‚Ich fahre hin, ich werde sie finden und nach Deutschland bringen, es wird alles gut, mach dir keine Sorgen‘, sagte ich Tanya. Sie macht sich auf jeden Fall dennoch Sorgen, denn ihre Eltern sind immer noch in Saporischschja und Europas größtes Atomkraftwerk steht immer noch in Flammen.
Ich rufe gleich bei meinem Schulleiter an und frage nach unserem schuleigenen 9-Sitzer. Wer weiß, wozu ein paar mehr Plätze gut sind… Und ich habe gerade den Tipp bekommen, mich um einen Beifahrer zu kümmern. Auch da habe ich ein paar Ideen, wer mitfahren würde. Über Kontakte habe ich eine Zusage als Beifahrer von einem zu dem Zeitpunkt noch unbekannten Malte, der sich seit Jahren bei Peer-Lead-International e.V. engagiert. Dann hieß es erstmal abwarten.
Samstag, 18:10. Ich hatte die letzten Tage mehrfach mit Tanya gesprochen. Viktor und Edit waren erst in einem Kleinbus unterwegs. In der Ukraine wurden alle Straßenschilder abmontiert, sodass Tanjas Vater Viktor nie wusste, wo sie gerade sind. Nach 28 Stunden waren sie in Lviv angekommen. Im nächsten Bus hieß es, sie sind zwar in 4 Stunden an der Grenze, aber müssen dann mehrere Tage im Stau stehen. Ich war startklar. Malte auch.
Tanya hat gerade wieder angerufen. Alles ging schneller als gedacht. Sie hat mir eine Adresse von einer Schule in der polnische Stadt Przemysl geschickt. Dort würden sie in etwa 18 Stunden eintreffen. Ich habe mich bei Malte gemeldet, den ich zwar nicht persönlich kannte, aber der hat sich seit Jahren bei Peer-Lead-International e.V. engagiert und soll einige Beziehungen zur Ukraine haben. Er wollte eigentlich gleich zum Essen mit Freunden. Stattdessen schnappt er sich seinen Rucksack und geht zum Bahnhof. Wenn alles nach Plan läuft, hole ich ihn um 22:43 am Hannover Hbf ab. Morgen wollen wir spätestens um 8:00 starten.
Montag, 5:10. Ich sitze hier in der Turnhalle einer Grundschule, etwa 15 Kilometer von der polnischen Grenze zur Ukraine entfernt. Ich habe meine ukrainischen Stiefgroßeltern hier gestern Abend wohlbehalten gefunden. Heute morgen um 3.30 Uhr erhielten wir eine Nachricht von einer Mutter und ihrer Tochter, die direkt an der Grenze in der Kälte standen. Wir haben sie abgeholt und hierher gebracht. Im Moment ist nur ein Bett verfügbar, also schläft die Tochter, während ihre Mutter auf sie aufpasst. Wir haben der Mutter eine provisorische Matratze angeboten, aber sie wollte nicht von der Seite ihrer Tochter weichen.
Um mich herum bereiten Dutzende von polnischen Freiwilligen das Frühstück vor, richten alles ein und sorgen dafür, dass jeder hier versorgt wird und sich sicher fühlt. Nur 15 Kilometer von einem Land entfernt, das langsam vom Krieg zerrissen wird, bin ich Zeuge von bedingungsloser Gastfreundschaft, Empathie und Freundlichkeit.
Und so seltsam es auch klingen mag, einige der jüngeren Kinder scheinen sich zu amüsieren. Und warum auch nicht? Ihre Mütter lächeln sie an, spielen mit ihnen und geben ihnen all die Umarmungen, die sie brauchen. Diese Mütter sind im Moment die stärksten der Welt. Ich hoffe, das wird sich bald ändern. Ich hoffe, dass sie sich fallen lassen können und dass sie jemanden haben, der sie auffängt.
Dienstag, 15:55: Ich schreibe die letzten paar Wörter zu diesem Ereignis. Ich könnte noch mehr zu den drei Familien erzählen, die wir mit nach Deutschland gebracht haben, zu unserer Erfahrung direkt an der Grenze, zu der 15-Stündigen Fahrt nach Hannover oder, oder, oder… Aber mir fällt nur noch eine kleine Geschichte ein, die ich unbedingt erzählen möchte. Die Tochter von Natalya, die wir frierend an der Grenze abgeholt haben, und deren Namen ich peinlicherweise nicht mal weiß, hat mir nach unserer späten Ankunft in Hannover gezeigt, warum deren einziger Koffer unbedingt aufrecht bleiben sollte. Sie holte eine durchsichtige Brotdose aus Plastik daraus hervor. Darin war ein gewölbtes Stück Holz, ein bisschen Stroh, und ein Hamster. Sie lächelte, hat ihn herausgenommen und mir in die Hände gelegt.
Bevor er schlafen gegangen ist, hat Malte ein paar Leute von Peer-Leader-International angeschrieben. Und gerade eben hat er mir ein Bild geschickt. Der Hamster hat ein neues Zuhause. Es ist ihm sicherlich ein wenig fremd und auch noch in einem neuen Land, aber der Hamster ist umgeben von Menschen, die ihn lieb haben, die sich um ihn kümmern, die ihm auch auffangen werden, falls er mal fällt.